Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Erinnerungen beginnen im Alter von viereinhalb oder fünf Jahren, an die Zeit davor kann ich mich natürlich nicht so gut erinnern. Wie war Chisinau damals? Damals lebten dort 120.000 Menschen, es war eine Großstadt.
  2. Heute leben dort 800.000 Menschen, es ist die Hauptstadt der Republik Moldau, die in der langen Zeit viele Veränderungen erfuhr: die Wende, als die Provinz von Rumänien an die Sowjetunion kam, und noch eine Wende, als sie der unabhängige Staat Moldau wurde.
  3. Ich kam dann nach Deutschland, dass war eine weitere Wende. Mein Nachname klang unterschiedlich in den verschiedenen Sprachen. Ich hieß Olischanski in Rumänien und Olschanskij in der Sowjetunion.
  4. Und in der Republik Moldau wurde mein Name französisch transkribiert – Olchanski mit ch. Als ich die deutsche Staatsangehörigkeit bekam, wollte ich Olschanski heißen, wie mein Nachname ursprünglich war.
  5. Ich stellte einen entsprechenden Antrag und nun steht in meinem Ausweis Olschanski mit sch. Also, mein Nachname veränderte sich auch viermal.
  6. Es ist interessant, über das damalige Bessarabien zu erzählen. Wie schon gesagt, war es eine rumänische Provinz. Der damalige König war Karl II. von Hohenzollern. Seine Mutter, Königin Maria, lebte noch, und sein Sohn Michai wurde später rumänischer König. Die bessarabische Bevölkerung war aber sehr vielfältig, da waren alle Nationalitäten vertreten.
  7. Erstens sehr viele Russen, die vor der Sowjetmacht geflohen waren, die meisten gehörten zur Intelligenzija. Natürlich lebten dort Moldauer, außerdem viele turkstämmige Gagausen und Bulgaren. Es gab auch viele Armenier und Griechen.
  8. Das war eine bunte Mischung und alle lebten friedlich und im Einvernehmen. Dabei hatte jede Nationalität ihre Berufe. Die Juden z.B. waren Schneider, Schuster und Händler. Die Bulgaren bauten Gemüse und Obst an. Die Griechen machten Süßigkeiten und die Armenier waren meistens Frisöre.
  9. Die Stadt wirkte provinziell, obwohl sie Hauptstadt war. Es gab nur zwei Straßenbahnlinien, die zur Jahrhundertwende von den Belgiern gebaut worden waren. Das wichtigste Verkehrsmittel waren Kutschen. Später komme ich noch darauf zu sprechen. Kutschen und Pferdewagen, das waren die Verkehrsmittel.
  10. Die Lufttemperatur war damals ganz anders, es gab Frost mit minus 20 Grad und kälter. Die Lebensweise richtete sich danach, unter diesen Bedingungen zu überleben. Die Straßen wurden natürlich nicht geräumt, der Schnee fiel im November und lag bis zum jüdischen Pessachfest.
  11. Unser Leben war so: In einem Innenhof wohnten verschiedene Nationalitäten, bis zu 12 Familien. Das Leben der Kinder war besonders naturverbunden. Da gab es Pferde, Enten, Gänse, Hühner, Hunde und Katzen. So eine Umwelt gibt es nicht mehr, heute geht man mit dem Hund Gassi.
  12. Früher war es absolut anders. Und was interessant ist, wir schlossen die Türen nicht ab. Wir gingen z.B. zum Markt und ließen die Tür offen, keiner ging hinein. Wir lebten friedlich. Fehlte Gemüse für die Suppe, so gingen wir zu einer Madame (so nannten wir damals die Frauen). „Madame, haben Sie vielleicht dies oder das?“ Man half sich gegenseitig, so lebten wir.
  13. Es roch auch dementsprechend: Viehmist und Heu. Das alles begleitete meine Kindheit.