Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Als Kind hatte ich Glück, dass ich sehr gut lernte. In Rumänien gab es 10 Schulnoten und folgende Regel: Wenn Du in allen Fächern eine glatte 10 hast… Prüfungen gab es schon ab der ersten Klasse... Dann bekommst Du im Mai eine Blumenkrone auf den Kopf gesetzt und gehst mit dieser Krone durch die Straßen nach Hause. Und alle sehen es.
  2. Ich will eigentlich darauf hinaus: Weil ich gut lernte, wollten alle reichen Familien in unserem Stadtteil… Dort wohnten aber hauptsächlich arme Leute. Es gab jedoch auch reiche Fabrikbesitzer. Da wohnte ein Garnisonsadjutant, ein rumänischer Hauptmann namens Mandelstianu. Und viele andere, auch der Chef der bessarabischen Eisenbahn, er war Russe und hatte an der Kiewer Uni studiert. Sie kamen zu meiner Mutter und baten sie, dass ich ihren Kindern helfen möge und ihr Freund werde.
  3. Bei diesen Familien zu Hause sah ich, wie man zu leben hat. Ich saugte dies alles auf und überlegte: „Warum lebe ich anders, warum ist das so in unserer Familie?“ Ich meine nicht den Wohlstand, sondern die Kinderliebe, den Umgang mit den Kindern und so weiter. Mich hat man sogar geschlagen, besonders der Vater. Meine Mutter schlug mich nie.
  4. Das ist er. Er war eigentlich ein ungebildeter Mensch, Schuster. Er wurde in die zaristische Armee einberufen und war bei der Artillerie. Das war noch vor 1918, nicht in Rumänien, sondern noch im Zarenreich. Er tat sich durch seine geistigen Fähigkeiten dort hervor. Sehen Sie seine Handschrift hier? Er lernte dort lesen und schreiben.
  5. Er schickte es meiner Mutter von der Front. Bei der Armee brachte er es bis zum Unteroffizier. Meine Kindheit war sehr schwer, das ist noch milde ausgedrückt. Mein Vater, der so viele Begabungen hatte oder Potenzial, wie es heute heißt, verlor dieses Potenzial.
  6. Er trank viel und ging vielleicht fremd. Ich weiß es nicht genau, ich war noch klein. Er behandelte meine Mutter sehr schlecht, wir hatten großes Mitleid mit ihr. Er sorgte für Skandale.
  7. Meine Kindheit war einfach schrecklich, und eines Tages beschloss ich, mir das Leben zu nehmen. Ich ging in einen Schuppen und wollte mich aufhängen, wurde aber entdeckt.
  8. Ich war klein, aber wissen Sie, ich war ein kleiner Erwachsener sozusagen. Sie verstehen, was ich meine.
  9. Sehr viele fragen mich, warum ich meine Lebenserinnerungen nicht aufschreibe. Aber sogar das, was ich Ihnen erzähle, fällt mir sehr schwer.