Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Mutter, geborene Kagan, Berta Timofejewna – oder genauer Tewelewna – wurde 1906 im ukrainischen Gadjatsch geboren. Damals war es das Gebiet Rowno oder Poltawa, ist aber nicht wichtig. Sie stammte auch aus einer kinderreichen Familie. Sie war das einzige Mädchen, die anderen vier oder fünf waren Jungs.
  2. Meine Mutter konnte Russisch schon vor der Revolution, sie besuchte das Gymnasium. Sie konnte aber nur die sechste Klasse beenden. Trotzdem war sie noch lange Zeit ein Vorbild für ihre Kinder, sie konnte Französisch und auch Latein, was damals am Gymnasium unterrichtet wurde.
  3. Der Mutter gelang es nicht, einen Hochschulabschluss zu machen. 1929 hat sie den Vater geheiratet, wir lebten in Charkow. Die Mutter machte eine Ausbildung als Sekretärin-Stenografin und arbeitete im Gebietskriegskommissariat wohl bis zum Krieg.
  4. 1937 wurden ihr mittlerer Bruder und dann der jüngste verhaftet. Heute ist es schwer, den formellen Grund dafür herauszufinden. Ich möchte aber hervorheben: Der Jüngste wurde laut Paragraf 58 als japanischer, deutscher und englischer (Spion) zur Erschießung verurteilt.
  5. Über den anderen Bruder wissen wir nichts Genaues, er wurde drei Jahre später, noch vor dem Krieg, freigelassen. Als meine Mutter von der Todesstrafe erfuhr… Niemand glaubte daran, meine Mutter hatte aber einen harten und prinzipiellen Charakter. Zudem waren ihre Brüder während der Revolution Komsomolzen gewesen und hatten am Bürgerkrieg teilgenommen.
  6. Und wer tat es damals eigentlich nicht, die Frage war nur – auf welcher Seite. Ich weiß nicht wie, vielleicht half ihr jemand in Moskau, aber sie wurde von Wyschinskij empfangen. Er war der Generalstaatsanwalt, der das Ganze beaufsichtigte. Sie sagte ihm Folgendes: „Wenn mein Bruder ein Volksfeind ist, erschießen Sie ihn vor meinen Augen.“
  7. Danach kam die Sache in die Berufung, das Ergebnis war kaum besser: Die Erschießung wurde umgewandelt in 25 Jahre Haft. Nach zwei Verhaftungen… Er wurde wie all diese Leute zehn Jahre später freigelassen. Nach etwa einem Jahr wurde er wieder abgeholt, insgesamt hat er 20 Jahre abgesessen.