Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich wurde Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf. Ich begann mich umzuschauen, was ich machen kann. Es war wohl 1999, als ich vom Verein oder der Gruppe der Holocaustüberlebenden hier hörte. Die meisten waren im Ghetto, in den KZs hat so gut wie keiner überlebt.
  2. Ich besuchte dann eine ihrer Sitzungen, dann noch eine. Ich selbst gehöre natürlich nicht zu dieser Kategorie. An der Spitze der Gruppe stand zunächst ein gewisser Levin, ein Überlebender. Er starb und heute wird diese Organisation von David Roisman geleitet.
  3. Die Jahre zeigen ihre Wirkung, früher kamen sogar 30 Leute zusammen, heute viel weniger. Dann kam ich auf den Gedanken: Vielleicht versuche ich diese Sache. Und schon wieder… Sie oder Ihre Kollegin haben von Chauvinismus oder Bürokratismus gesprochen.
  4. Ich wandte mich an Roisman: „David, ich habe so eine Idee und hätte gerne die Liste mit den Namen dieser Leute.“ – „Nein, in Deutschland darf man das nicht.“ Ich sagte: „Warum? Erlaubt es mir doch…“ – „Nein, nein!“ Kurz gesagt, das war lächerlich. Etwa drei Jahre musste ich da umherwandeln, bis ich die Liste erhielt.
  5. Kurz gesagt, ich bekam die Liste von einem Gruppenmitglied; die Frau war Sekretärin oder so. Ich begann dann eine Arbeitsgruppe zu bilden. Ich kannte mich schon aus, ich lebte immerhin seit drei Jahren in Deutschland. Ich sammelte eine Gruppe aus 15 Leuten.
  6. Wir begannen zu arbeiten. Auf was trafen wir dabei? Manche waren gleich bereit, ein Gespräch mit uns zu führen, manche waren unentschieden. Andere weinten, wenn wir sie ansprachen. Wieder andere sagten schlicht: „Wir leben in Deutschland, wir haben Angst und wollen es nicht.“
  7. Auch hier ist es die Freiheit. Was dabei bemerkenswert war… Ich hatte immerhin einiges in diesem Projekt erreicht und mit dem Buchmanuskript. Ich wollte, dass am Projekt auch hiesige Juden teilnehmen, dabei wurde es ab und zu anekdotenhaft. Ich hatte die Liste, wir begannen zu arbeiten und wurden mit Folgendem konfrontiert: Holocaustüberlebende sagten uns… Manche sind schon tot, Ehre ihrem Andenken.
  8. Sie sagten: „Was haben Sie vor? Wissen Sie etwa nicht, dass wir nicht von der sowjetischen Armee befreit wurden?“ Ich sagte: „In diesem Fall ist es mir nicht wichtig, wer sie befreit hat: die Amerikaner, Engländer oder die sowjetische Armee.“ – „Und überhaupt, wir wollen nichts mit allem Sowjetischen (zu tun haben).“
  9. Es gab also Probleme. Ich griff dann nach der Statistik. Natürlich ist jede Statistik relativ, ganz klar. Ich sagte: „Das ist Statistik. Auf der Landkarte sind 40 KZs. Von Ghettos spreche ich jetzt nicht. Die offizielle Statistik besagt: Die sowjetische Armee hat 37 KZs befreit, die anderen Alliierten sieben. Wollen wir darüber diskutieren?“
  10. Es war aber egal, ich konnte sie nicht überzeugen. Im Endergebnis sind manche Hiesige mit dabei – auf der CD-ROM und im schriftlichen Material. Aber sie sind in der Minderheit, weil die anderen hartnäckig bleiben. Übrigens waren sie bis zuletzt – das kennen Sie wohl aus Köln und den anderen Städten – strikt gegen das Feiern des „Tages des Sieges“. Da half nichts…
  11. In Düsseldorf gab es so eine Episode: Ein Kriegsveteran saß mit unserem Gemeindeleiter zusammen. Der Kriegsveteran kann Jiddisch und Deutsch, er konnte sich verständigen. Er bat ihn, am Telefon Platz zu nehmen, und rief Israel an. Dann bat er – er gab ihm den Hörer weiter – zu erzählen, wie der „Tag des Sieges“ in Israel gefeiert wird.
  12. Nach diesem Gespräch… Es gab einen Artikel von Lenin, „Das Eis ist gebrochen“, über die Lena-Ereignisse 1912. Also, das Eis ist irgendwie gebrochen. Das war sehr kompliziert, sehr. Ich werde jetzt getadelt, das Projekt würde zu lange dauern usw.
  13. Erstens aber sind manche von den 15 (Mitarbeitern) leider schon tot. Die Leute sind auch krank. Heute arbeiten mit mir praktisch nur drei zusammen. Die Leute verstehen das aber nicht, sie verlangen die Veröffentlichung. Ich habe Probleme in diesem Sinne, werde sie aber irgendwie bewältigen.
  14. Kurz gesagt, wir begannen mit der Sammelarbeit. Aber wie sollen wir sammeln? Ich teile nicht die Ansichten von Spielberg, denn ich bin selbst kein Spielberg. Und wie kann ich mich mit ihm vergleichen, mit seiner Größe, seinen Millionen usw.?
  15. Warum erzähle ich das? Erstens kam das Material als handgeschriebene Manuskripte an. Wir mussten die Leute mehrmals treffen und nachfragen. Mag sein, dass meine Bemerkung nicht ganz stimmt, aber Sie werden vielleicht auch zu der Schlussfolgerung gelangen: Die Mehrheit derer, die ihre Erinnerungen aufschrieben, waren damals Kinder oder in so einem Alter, und viele konnten sich später kaum weiterbilden.
  16. Das ist kein Vorwurf, so ist die Realität. Die Notizen waren sozusagen… Deswegen mussten wir sehr viel arbeiten, das Handgeschriebene auf dem PC abtippen. Dann mussten wir uns die Texte anschauen und zum Lesen geben, dann präzisieren. Ich könnte Dokumente zeigen, wo…
  17. Bei uns war ein Mitarbeiter, heute macht er irgendwie nicht mit – Erwin Nagy. Er kann mit dem PC umgehen, er las die Texte und formulierte die Rückfragen. Denn nichts war verständlich, weder Zusammenhang noch Logik. Also, wir mussten sehr viel mit diesen Materialien arbeiten und sie später redigieren, formatieren usw.
  18. Was gesagt werden muss: Als wir es durchgesetzt hatten, war uns die Aufmerksamkeit der Gemeindeleitung sicher. Ich bat darum, Technik – Diktiergeräte usw. – zur Verfügung zu stellen, und es wurden fünf oder sieben Diktiergeräte gekauft. Wir bekamen Geld, um in andere Städte zu reisen, auch für Korrespondenz, Fotos usw.
  19. Einen Teil der Interviews nahmen wir genauso (auf Video) auf. Einer von uns ist Vladimir Georgiejenko aus Kiew, er ist „Verdienter Kulturschaffender der sowjetischen Ukraine“. Heute lebt er hier, er ist Sohn eines bereits verstorbenen Generalleutnants.
  20. Als Kameramann und Regisseur hat er die ersten fünf sowjetischen Filme über Babij Jar gemacht. Seine Filme liefen in der UNO usw. Wir fuhren dann z.B. nach Krefeld und filmten jemanden. Stellen Sie es sich vor, wir mussten dann die Aufnahme auf eine andere Kassette kopieren und dann den Text abtippen. Also viel…
  21. Die Gemeinde, die Leitung begann sich daran zu beteiligen. Alle Namen zu nennen… In all den Jahren haben sie oft gewechselt. Die Hauptsache ist: Die Gemeindeleitung unterstützte uns. Etwa fünf Jahre arbeiteten wir in verschiedenen Räumen. Ich sagte dann: „Geben Sie uns einen Raum, bei mir zu Hause stapelt es sich kopfhoch.“ Und ich bekam diesen Raum.
  22. Heute kann man sagen: Wir machen den Satz für das Buch. Das ist auf der CD, davor gab es zwei oder drei andere. Nun muss die Arbeit abgeschlossen werden, ich möchte es definitiv. Denn ehrlich gesagt, mir fehlen schon… Das ist auch kein Material, bei dessen Bearbeitung die Nerven geschont werden. Wenn man es liest, dann ist man völlig… Aber die Gelder, die ich für den Projektabschluss benötige, konnte ich bisher nicht erhalten.
  23. Was den letzten Arbeitsschritt anbelangt, ist es im Grunde so… Ich und eine andere aktive Mitarbeiterin, Galina Pedahovska, machen schon Witze darüber: „Wird unser Leben reichen? Wir schaffen so etwas wie den ‘Brockhaus’ und ‘Jefron’, Minimum 30 Bände.“ Das sind über 250 Seiten, die man speichern und in eine Druckerei geben kann. Ob das eine Hälfte oder mehr ist, weiß ich nicht. Denn das ist alphabetisch geordnet, wir sind jetzt bei K.
  24. Trotzdem ist sozusagen das Eis gebrochen. Insgesamt kommen wir irgendwie voran. Nach langen Diskussionen haben wir beschlossen, das Buch „Die Mahnenden“ zu nennen. In einer gewissen Arbeitsphase machten meine Frau und meine Tochter sehr aktiv beim Projekt mit. Meine Frau las und redigierte die Texte, die meiste Arbeit beim Abtippen am PC machte meine Tochter. Ich verstehe, das Ganze ist ihnen schon überdrüssig. Sie sagt: „Ich weiß nicht, vielleicht können wir unsere letzten Krumen einsetzen?“ Ich sage: „Deine Krumen werden nicht ausreichen.“ Sie ist aber bereit, das Budget zu prüfen und… Ich sage: „Es wird nicht ausreichen, auch wenn du die letzten Reste auskratzt.“
  25. Der Holocaust traf auch meine Familie, mütterlicher- und väterlicherseits. Eine Cousine von mir kam während der Blockade um, und noch jemand an der Front usw. Ich bin der Meinung, es ist einfach meine menschliche Pflicht, ich bin ihrem Gedenken verpflichtet. Dabei wird heute versucht, das Ganze sozusagen zu vergessen, historisch zu verfälschen und der Vergessenheit preiszugeben.