Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich finde, das ist eine normale Karriere. Was ich im Werk erworben hatte, hätte ich nie als Lehrer oder Hochschulkraft erworben. Eine Werkskarriere und ein Arbeitskollektiv, das ist eine Extra-Beschreibung wert. Und trotzdem verfolgte mich der Gedanke, dass ich zurück zu meinem Beruf muss.
  2. Wobei es finanziell in den letzten Jahren der Werksarbeit sehr gut aussah. Denn ich gehörte zur Kategorie Ingenieure und Techniker. Es gab Prämien und Zuschläge, das Werk lief stabil. Da gab es nichts zu klagen. Ich war übrigens viel unterwegs, machte interessante Dienstreisen in der ganzen Sowjetunion. Also, alles war interessant.
  3. Aber der Gedanke, auf den eigenen Acker zurückzukehren, Historiker oder Geisteswissenschaftler zu sein... Du weißt das. Und die Kollegin – in Deutschland war es vielleicht etwas anders. In den 1960er-Jahren begannen die Wissenschaften zu boomen, die vorher vergessen und verfemt waren. Unter anderem auch die Soziologie.
  4. Ist es richtig, was ich sage? Richtig. Mein Kopf war immerhin intakt, ich schaute mir das Werk noch einmal an. Damals kannte ich mich auch mit der Konjunktur in der Stadt aus usw. Und ich fuhr… Nein, im Vorfeld sprach ich mit dem Werksdirektor. Er war auch ein sehr interessanter und guter Mensch jüdischer Herkunft, Kriegsteilnehmer.
  5. Er wurde 1923 wegen Antisemitismus aus dem Komsomol ausgeschlossen. Er hatte sehr viele Auszeichnungen, er hatte den ganzen Krieg mitgemacht. Sein Name war Jewgenij Kesler. Ich sprach mit ihm: „Wissen Sie, ich muss wohl hier weggehen. Wenn ich einen Lehrstuhl finde, wo ich meine Sozialforschungsarbeiten aus dem Werk anbieten kann, würden Sie das finanzieren?“
  6. Er telefonierte mit einer Abteilung und mit dem Oberbuchhalter. Ich glaube, er wollte nur den Anschein erwecken, denn man hatte keine Ahnung, worum es geht. Ich glaube, auch er verstand das nicht ganz oder überhaupt nicht. Dann sagte er, sie wollten mal schauen, ich solle einige Tage später vorbei kommen.
  7. Ich hatte schon Aussicht, an einen Lehrstuhl am Ukrainischen Polytechnischen Institut für Fernstudien zu kommen. Ich kannte den Lehrstuhlinhaber da. Kurz gesagt, er sagte mir, ich solle in Erfahrung bringen, welche Summe nötig sei. Der Lehrstuhlleiter hieß Iwan Prokoptschenko, ehemals Sekretär des Gebietskomsomolkomitees in Charkow.
  8. Also, da passte Einiges zusammen, dank meiner Jahre in der Pionier- und Komsomolarbeit. Er überlegte und sagte: „Wir wollen Sie zunächst für ein Jahr einstellen.“ Vorher gab es am Lehrstuhl gar keine Soziologie. Er kannte sich aber aus und sagte: „Also für ein Jahr. Wenn der Werksleiter etwa 60.000 Rubel bereitstellen wird, werden wir eine Arbeitsgruppe und ein Labor einrichten und Leute einstellen.“
  9. Ich kam dann zum Werksleiter und sagte: „Soundso…“ und lächelte natürlich dabei. Er lächelte zurück und sagte: „Wann bringst du den Kooperationsvertrag?“ Ich sagte: „Wann Sie möchten, geht es auch morgen?“ Wir machten den Vertrag und unterzeichneten ihn.
  10. Und noch im Werk tätig, begann ich mich mit Soziologie zu beschäftigen. Das war natürlich angewandte Soziologie, Wirtschaftssoziologie und Soziologie des Arbeitskollektivs. Dabei gab es ab und zu auch Aspekte der Sozialpsychologie und der zwischenmenschlichen Beziehungen: Führungskraft und Kollektiv, formelle und informelle Führungspersönlichkeiten.
  11. Es brachen bereits die 1970er-Jahre an. Wir brachten einige Arbeiten zustande zu einem damals gängigen Thema. Es war nicht meine Erfindung. Ehrlich gesagt, damals war es auch schwer, auf andere Themen zu kommen. Das waren Fragen, die mit Personalfluktuation und Kaderstabilität in der Industrie zu tun hatten. Wir bereiteten Berichte vor, nur mit den eigenen Werksfachkräften.
  12. Dann kam die nächste Etappe. Ich lieferte den Bericht ab und fragte: „Was kommt weiter?“ Er war im Bilde, er hätte mir auch absagen können, zudem spielte ich nicht die erste Geige in der Sache. Er schlug mir aber vor, in den Lehrstuhl für Philosophie zu wechseln. Ich sollte ein Thema im Werk ausarbeiten und seine Finanzierung sichern und (würde) einen Kooperationsvertrag bekommen.
  13. Ich sagte: „Ich muss mit dem Direktor wegen der Verlängerung sprechen.“ Man berücksichtigte wohl meine zehnjährige Arbeit im Werk und entschied, mir entgegen zu kommen. Es wurde noch ein Vertrag unterschrieben, vielleicht schon mit einer größeren Summe. Erstaunlicherweise wurde ich gleich als gehobener wissenschaftlicher Mitarbeiter eingestellt. Damals hatte ich keinen wissenschaftlichen Titel und verdiente etwa 150 Rubel. Für die Zeit war es eigentlich… So begann ich dort zu arbeiten.